Alle, die verstehen, was in einer fremdsprachigen Urkunde steht, können sie doch auch zumindest in die eigene Muttersprache übersetzen, oder?
Leider nein! Fakt ist: Trotz der manchmal täuschenden Einfachheit der Urkundeninhalte sind zum Urkundenübersetzen weitgehende Fachkenntnisse der Rechtssysteme der jeweiligen Staaten erforderlich. Und auch formale und inhaltliche Anforderungen an Übersetzungen im Zielland gilt es zu beachten. Unsere Kollegin Ilona erklärt als ermächtigte Übersetzerin, warum.
Es ist ein Kinderspiel, eine Geburtsurkunde zu übersetzen, oder? Auch mit minimalen Sprachkenntnissen versteht man doch, was drinsteht. Und so melden sich schon mal Kund*innen bei mir als Urkundenübersetzerin mit der Idee: „Ich habe in dem Land fünf Jahre gelebt, ich übersetze dann schon mal vor. Sie müssen nur stempeln. Das kostet dann doch nichts, denn ich mache ja die ganze Arbeit.“ Und so landen dann auf meinem Schreibtisch interessante Werke mit Bezeichnungen für Bildungseinrichtungen wie „Gomel Staat Medical College“ (in korrektem Deutsch eher: Staatliches medizinisches College Gomel) oder dem Beruf „Modeschöpfer-Künstler mit Spezialität Frisierkunst und Schmuckkosmetik“. Das wäre lustig, wenn es nicht höchst unglücklich wäre, denn beides sind Beispiele aus echten Urkundenübersetzungen, die zur Anerkennung von Abschlüssen vorgelegt wurden.
Und so muss man anerkennen, dass die in Deutschland bestehenden formalen Zugangsbeschränkungen zum Beruf „Urkundenübersetzer*in“ zumindest teilweise ihre Berechtigung haben: Sie verlangen von den Kandidat*innen nachweisliche persönliche und fachliche Eignung. Über die konkrete Ausgestaltung und Umsetzung der aktuellen Gesetzgebung in diesem Kontext kann man durchaus diskutieren (s. dazu unseren Artikel zum GDolmG).
Unstrittig ist aber, dass das Übersetzen von Urkunden und die anschließende Bestätigung der Richtigkeit und Vollständigkeit dieser Übersetzungen (das sog. Stempeln) eine verantwortungsvolle Tätigkeit ist und ganz bestimmte Kompetenzen voraussetzt.
Dabei handelt es sich im ersten Schritt um sehr breitgefächerte Kenntnisse der Sprache, in der die Urkunde verfasst ist (Ausgangssprache). Auch nicht zu vernachlässigen ist die Fertigkeit, die teilweise regelrecht hingekritzelten handschriftlichen Einträge zu lesen. Das Verstehen aller Begriffe, die durchaus einen systemgebundenen spezifischen Charakter haben, funktioniert zudem nur dann lückenlos, wenn man das Rechtssystem des Landes kennt, in dem das Dokument ausgestellt wurde. Denn nur so kann man die Einträge richtig einordnen. Ein Beispiel: In Weißrussland werden alle Abschlüsse von Berufsbildungseinrichtungen als „Diplom“ bezeichnet. Dazu gehören sowohl Abschlüsse von Berufsschulen als auch von Universitäten. Übersetzt man demnach einen Berufsschulabschluss ins Deutsche als Diplom, würde man suggerieren, dass es sich um einen Hochschulabschluss handelt. Auch wenn dieses Versehen nicht unbedingt zur Anerkennung des Abschlusses als Hochschuldiplom führen würde – verwirrend ist es allemal.
Beim Übersetzen ins Deutsche – zur Vorlage der Übersetzung vor deutschen Behörden – landen wir quasi automatisch im deutschen Rechtssystem und müssen zusehen, dass das in der Originalurkunde verbriefte Recht in der deutschen Sprache sprachlich und sachlich korrekt formuliert sowie rechtlich eindeutig nachvollziehbar und zuordenbar ist. Das schafft man nur, wenn man die deutsche (Ziel-) Sprache fehlerfrei beherrscht sowie das deutsche Rechtssystem gut kennt und einschätzen kann, inwieweit man deutsche Rechtsbegriffe für ausländische Sachverhalte überhaupt verwenden kann. Die Alternative hier wäre, einen gänzlich anderen Begriff zu wählen oder auf eine erklärende Übersetzung zurückzugreifen.
Und last but not least: Die Übersetzung einer Urkunde ist eine Lesehilfe für die zielsprachlichen Leser*innen. Beim Lesen muss man also jeden übersetzten Inhalt auf den ausgangssprachlichen Inhalt inkl. dessen Position im Layout beziehen können. Auch gibt es behördliche Anforderungen zum Übertragen von Personen- und Ortsnamen ins Deutsche, die nicht in der Schule, sondern in der Übersetzeraus- oder -weiterbildung gelernt werden.
Dieser kurze Umriss der Kompetenzen, die ein*e Urkundenübersetzer*in für diese Dienstleistung mitbringen muss, macht deutlich: Das Urkundenübersetzen als eigenständiges Fachgebiet sollte ernstgenommen werden.
Mehr dazu können angehende Urkundenübersetzer*innen in unseren praxisorientierten Kursen zur „Einführung ins Urkundenübersetzen“ und zur „Praxis des Urkundenübersetzens“ lernen.
Wenn Du Fragen zum Thema hast, steht unsere Kollegin Ilona Riesen gern zur Verfügung.